Eine simple Moral stiftet nicht nur Orientierung und Halt im komplizierten Alltag. Sie schafft auch einen Mehrwert, den andere zu bezahlen haben.
Es scheint ein Zeichen der Gegenwartskultur zu sein, dass immer mehr Menschen glauben, ihren Zeitgenossen moralisierende Belehrungen erteilen zu müssen. Zum Beispiel schrieb mir unlängst allen Ernstes irgendeine Person auf Instagram, die Verwendung von Mickey-Mouse-Handschuhen transportiere rassistische Inhalte und sei daher böse.
«Böse» wirkt wie eine moralische Kategorie; tatsächlich jedoch handelt es sich um eine Moralisierung. Was aber ist Moralisierung? Nichts anderes als ein Kategorienfehler, der dann vorliegt, wenn moralische Erwägungen in Bereichen geltend gemacht werden, in denen solche Erwägungen nicht einschlägig sind, etwa in den Sphären der Kunst oder in lebenspraktischen Bereichen wie Ernährung und Mobilität.
Bereits von Immanuel Kant kennen wir die Zurückweisung der Moralisierung moralisch indifferenter Sachverhalte. Wir erleben jedoch täglich, dass immer mehr Phänomene zu einer moralischen Angelegenheit aufgeladen werden, die keine sind: Schönheit, Reichtum, Gesundheit, Dekarbonisierung. Zum Beispiel.
Man fühlt sich so angenehm den Richtigen zugehörig in einer Gesellschaft, deren Zugehörigkeitsdiskurse sich parallel zur Steigerungslogik ihres Moralismus ausweiten. Meinung ersetzt Wissen, auch das Wissenwollen, und um diese Meinung gar nicht erst Gegenargumenten auszusetzen, wird sie obendrein moralisiert.
Gegen Gefühle kann niemand argumentieren. Die Berufung auf moralische Gefühle verhindert im Falle von Wertkonflikten die rationale Debatte – und damit eine konsensfähige Lösung des angeblich moralischen Problems, die ja immer auch die wechselseitige Anerkennung, die vernünftige Kritik von Argumenten und Konsequenzen bedeutet. Diese Unangreifbarkeit der moralistischen Stellungnahme ist kein Zeichen für ihre Richtigkeit oder Legitimität, sondern nur für ihren Dogmatismus.
Ein weiterer Nutzenaspekt von Moralisierungen besteht für ihre Verursacher in der Vermeidung von Unbehagen: Ich kann moralistisch verurteilen, was mir ökonomisch oder auch intellektuell unerreichbar ist. Zum Beispiel irgendeinen vermeintlichen Prozentsatz der Gesellschaft als «elitär» etikettieren, wenn ich selbst dessen Konsummöglichkeiten gerne hätte oder den Zugang zu einer exklusiven Bildungseinrichtung nicht geschafft habe.
Die Kosten der Moralisierung sind ein wenig vielfältiger (aber nicht kompliziert). Sie bestehen darin, dass ich, wenn ich nicht vor mir oder anderen als Heuchler dastehen will, auf moralistisch tabuisiertes Verhalten zu verzichten habe, also zum Beispiel den Zug nehmen muss statt des Flugzeugs, auch wenn das einen Mehraufwand bedeutet. Diese Kosten der Vermeidung von Scheinheiligkeit sind unterschiedlich hoch. Am geringsten sind sie regelmässig bei identitätspolitischen Moralisierungen: Es kostet nahezu nichts (ausser intellektueller Redlichkeit), zu behaupten, Kant sei ein böser alter weisser Mann gewesen, aber es bringt offenbar in einem bestimmten Milieu ausreichend Nutzen, um es zu tun.
Wenn die Moral sich ausbreitet, wird sie dünner – aber nicht billiger. Jedenfalls nicht auf gesellschaftlicher Ebene, wo die externen Kosten von Moralisierungen anfallen, also jene, die nicht direkt vom Verursacher der Moralisierung, sondern sozial zu tragen sind: ressentimenterfülltes Meinungsklima, Unfreiheit, Verlust von Höflichkeit, Humor und Unbefangenheit. Sowie die Aufsplitterung in hermetische Milieus mit Belehrungs- und Denunziationskultur.
Der Wirtschaftswissenschafter Armin Falk hat festgestellt, dass Märkte immer auch soziale Informationen über die Angemessenheit von Verhalten produzieren (zum Beispiel: wenn Fast Fashion lächerlich wenig kostet, scheint es angemessen, dauernd mehr zu kaufen). Dies gilt auch für die Märkte der Moralisierungen. Wie viel kostet welche Moral wo? Generell gilt: Je verbarrikadierter das Milieu, desto billiger seine Moralisierungen, desto angemessener erscheint das moralisierende Ressentiment nach aussen.
Diese Kosten-Nutzen-Struktur sorgt im Zusammenhang mit den Möglichkeiten sozialer Netzwerke dafür, dass wir nicht nur eine Ausweitung von Moralisierungen erleben, sondern auch, und das ist mindestens ebenso indignierend, immer öfter einen dramatisierten Moralismus. Pathetisch werden Wahrheitsansprüche deklariert sowie ein schwülstiges Sendungsbewusstsein und ein schaulaufender Rigorismus zelebriert. Das kostet wenig bis gar nichts, weil es sich nicht selten in den richtigen Hashtags erschöpft.
Die dramatisierte Moralisierung des Aussen vollzieht sich in Parallelität zur Kuratierung des Innen, der ausufernden Selbstbefassung. In unseren Tagen ist der Diskurs der Innerlichkeit, des Psychischen, der achtsamen Selbstpflege, einer der gesellschaftlichen Leitdiskurse. Das mutmasslich essenzielle und jedenfalls identitäre Ich wird als die letzte Sinnprovinz der eigenen Existenz zelebriert, in einer Logik, nach der das Private und Innere irgendwie das Eigentliche sei. Man könnte ein Verhältnis zur Welt gestalten, stattdessen beschäftigt man sich vorzüglich mit der vermeintlichen Authentizität seines eigenen Fühlens.
Das Tasten nach dem überhöhten eigenen Wesenskern kann demütigend sein, besonders, wenn er gar nicht vorhanden ist. Was hilft dann? Was ist dann ein billiges Mittel? Zum Beispiel die moralistisch getränkte Pathologisierung des anderen. Dabei handelt es sich um einen prämodernen, voraufgeklärten Mechanismus – und ebenso sehr um ein Phänomen des 21. Jahrhunderts.
Es ist alarmierend, wenn die Überbetonung von innengeleiteten Idealen wie «Authentizität» alle Hoffnungen auf ein sinnvolles Leben ins Private verlagert (eine Bewegung, die der Soziologe Richard Sennett unter dem Stichwort «Tyrannei der Intimität» bereits vor fast fünf Dekaden beschrieb) – und dann die Normen des Privaten wieder zurückgeschoben werden in den öffentlichen Raum. Nach dem Muster: Wenn ich kein Fleisch esse, soll keiner Fleisch essen. Wenn ich kein Auto fahre, soll keiner Auto fahren. Wenn ich aufgrund eines gründlich romantisierten Naturbegriffs (ebenfalls ein Zeichen unserer Zeit, in der Förster zu moralischen Instanzen aufsteigen) Tauben nicht als fliegende Ratten betrachte, soll keiner das tun. Und so weiter.
Moralismus liegt stets ein negatives Welt- und Moralverständnis zugrunde: Die Welt wird als feindlich aufgefasst und Moral als Schild verstanden, als Mittel der Abwehr von wahrgenommenen Überschreitungen. Tatsächlich aber ist Moral, die sich zu Recht so nennt, auch ein Mittel, ein Leben in Güte zu geniessen. Moral sollte auch eine Tugend des Mitempfindens, der Selbstlosigkeit, des Wohltuns sein. Dies gelingt in der Verbindung mit Humor. Dem Soziologen Niklas Luhmann verdanken wir das Aperçu, es sei Aufgabe der Ethik, vor Moral zu warnen. Und den Hinweis, das 18. Jahrhundert habe zu diesem Zweck den Humor erfunden.
Humor ist ein sicheres Mittel gegen den Sozial- und Achtsamkeitskitsch, den Moralisierungen regelmässig produzieren, indem sie, wie es die Methode des Kitsches ist, zwischen dem Ernsthaften und Oberflächlichem nicht mehr unterscheiden und die gedankliche Substanz an eine effekthascherische Einfachheit verraten. Indem er Selbstdistanz ermöglicht und scheinbar Unvereinbares zueinander in Beziehung setzt, öffnet der ironische Humor auch den Blick dafür, dass der Moralstandard und die Zivilisiertheit einer Gesellschaft sich nicht zuletzt nach der Qualität ihrer Übertretungen bemessen. Denn wenn Flugreisen und Cheeseburger die neuen Transgressionen sind, gibt’s womöglich nicht mehr allzu viel zu lachen.
Philipp Tingler ist Schriftsteller, Philosoph und Literaturkritiker.
Das widerlegt aber doch nicht die genannte unsichere Faktenlage! Zumal wenn es sich um das Thema "Klimaerwärmung (Forderung nach 1,5 Grad Begrenzung) im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter" handelt: Man weiß es nämlich schlicht nicht, wie es genau mit den klimatischen Verhältnissen im "vorindustriellen Zeitalter" bestellt war! In den riesigen Landmassen Chinas, Indiens, Südamerikas, Afrikas, der Arktis/Antarktis ja selbst Russlands gab es bis in die 1940/50er Jahre hinein ja noch nicht einmal eine exakte Kartierung, geschweige denn zuverlässig dokumentierte Temperaturmessungen. Und selbst dann, als die Industrialisierung im 19. Jahrhundert einsetzte, erzielte man mit den damaligen Messinstrumenten mitnichten exakte Ergebnisse. Zumal ja bekanntlich auch Vulkanausbrüche für klimatische Veränderungen auf der Erde sorgten (berühmtes Beispiel: der Vulkan in Indonesien, dessen Aschewolke in Europa einst Missernten und Hungersnöte auslöste). Insofern ist die Basis, aufgrund derer die Forderung nach "Erwärmungsbegrenzung auf 1,5 Grad" erhoben wird, doch recht fragwürdig. Verkannt wird dabei auch, dass die Energiegewinnung im vorindustriellen Zeitalter meist über Verbrennen erfolgte (Köhlermeiler!) - was ebenfalls einen enormen Co2-Ausstoß zur Folge hatte! Ärgerlich ist, dass solche Sachthemen zu Moralfragen hochstilisiert werden - und man sich dabei apokalyptischer Szenarien bedient, die eher in das Zeitalter eines Savonarola gepasst hätten.
Axel Erlebach:.... und diese Grünen-Bewegung hatte ihren Anteil an Technikfeindlichkeit, rousseauhafter Naturvergötzung und Zivilisationsmüdigkeit. Die Folgen dieser jahrzehntelangen Lobbyarbeit, die von Politik und Medien letztlich gestützt wurde, sehen wir leider heute: eine pseudoreligiöse Art und Weise, Sachthemen zu betrachten! Im Übrigen: Ich kann mich noch sehr gut an "das Waldsterben" erinnern. Und hätte es damals nicht für möglich gehalten, dass es heute überhaupt noch Wald in Deutschland gibt! All dies erwies sich später übrigens als Medienente - hervorgerufen durch das Raunen eines vereinzelten Försters! Ohne jede wissenschaftlich-empirische Grundlage.