Bewerbungsgespräche Scheitern an der Startnummer
Forscher der Universität Bonn haben Tausende Auswahlgespräche analysiert und herausgefunden: Die Bewertung eines Kandidaten hängt erheblich davon ab, wie sich sein Vorgänger geschlagen hat. Eine neue Folge unserer Serie "Verteidigen Sie Ihre Forschung"

Die Reihenfolge bei Vorstellungsgesprächen kann Bewerbern zum Verhängnis werden. Schuld sind sogenannte Kontrasteffekte: Der eigene Erfolg hängt davon ab, wie gut oder schlecht sich der Vorgänger oder die Vorgängerin präsentiert hat. Wie stark der Effekt ist, haben Forscher der Universität Bonn erstmals nachgewiesen. Offenbar sortieren viele Personaler gute Bewerber ungewollt aus und akzeptieren schlechte Kandidaten, nur weil diese noch schlechtere vor sich hatten.
Harvard Business manager: Frau Schiprowski, Sie behaupten, die Reihenfolge in Bewerbungsgesprächen entscheide darüber, wer sich durchsetzt. Wie kamen Sie darauf?
Amelie Schiprowski: Wir haben einen einzigartigen Datensatz mit mehr als 29.000 Auswahlgesprächen in Deutschland analysiert. Dabei hat sich gezeigt: Die Bewertung eines Kandidaten hängt erheblich davon ab, wie sich sein Vorgänger geschlagen hat. War der besonders gut, so verringert sich die Wahrscheinlichkeit, dass der nächste Bewerber positiv bewertet wird, um ganze 20 Prozent. In der Praxis kann das erhebliche Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt haben.
Ist die Startnummer sogar wichtiger als die Frage, wie gut ein Bewerber oder eine Bewerberin tatsächlich ist?
Nein, im Durchschnitt ist die gemessene Qualität des Bewerbers oder der Bewerberin selbst der wichtigste Einflussfaktor. Diese Qualität haben wir über zwei unabhängige Bewertungen von Dritten gemessen. Der Kontrasteffekt ist aber ein zusätzlicher Einflussfaktor, der ungewollt auftritt und insbesondere bei Bewerbern, die "auf der Kippe stehen", den Ausschlag geben kann.
In den Auswahlgesprächen ging es um ein Stipendienprogramm für Studierende. Ist das mit Stellen vergleichbar, die Unternehmen ausschreiben?
Die Ergebnisse lassen sich sehr gut auf klassisches Recruiting in Firmen übertragen, denn der nachgewiesene Effekt bezieht sich nur auf die Reihenfolge der Gespräche. Die Kandidaten für das Stipendium in unserem Versuch wurden zeitlich eng getaktet bewertet – in Unternehmen läuft das ähnlich.
Verzerrungen sind nichts Neues. Warum sind Sie so sicher, dass die Reihenfolge so wichtig ist – und nicht Alter, Aussehen oder Geschlecht?
Kontrasteffekte treten unabhängig von anderen Effekten auf. Das bedeutet nicht, dass Alter, Aussehen oder Geschlecht keine Rolle spielen. Analysiert man Reihenfolgen, sind andere diskriminierende Faktoren jedoch zweitrangig. Sie können den Kontrasteffekt allerdings noch verstärken.
Haben Sie ein Beispiel?
Wenn zwei Frauen aufeinanderfolgen, ist der Effekt besonders stark. Das liegt daran, dass sich die Kandidatinnen durch ihre offensichtliche Gemeinsamkeit noch besser vergleichen lassen. Auf der Suche nach der Topbesetzung ist diese Verzerrung natürlich wenig hilfreich.
Wie lässt sich das vermeiden?
Damit solche Ähnlichkeiten bei der Beurteilung keine Rolle spielen, sollten beispielsweise eben nicht zwei Frauen nacheinander angehört werden. Noch viel wichtiger ist es, die Gutachterinnen und Gutachter über die Tücke von Kontrasteffekten zu informieren. Sie müssen lernen, nicht an vorherige Bewerber zu denken.
Kann Aufklärung wirklich helfen? Manager wissen ja, dass sie sich nicht von Vorurteilen leiten lassen dürfen.
Im untersuchten Stipendienprogramm war den Gutachtern in der Tat der Zusammenhang bereits bekannt. Doch dass der Effekt noch so häufig auftritt und die Bewertung so stark beeinflusst, hat mich selbst überrascht. Information allein ist natürlich nicht genug, Unternehmen müssen auch konkrete Handlungsstrategien entwickeln.
Was schlagen Sie vor?
Wer alle Bewerber später noch einmal gedanklich durchgeht, sollte das in einer anderen Reihenfolge tun. Sprich: den 16-Uhr-Termin vor dem 14-Uhr-Termin rekapitulieren. So lassen sich Kontrasteffekte abschwächen. Außerdem sollte die Jury vorab Bewertungskriterien festlegen, auf die sie sich während der Gespräche konzentrieren kann.
Was können solche Kriterien sein?
Dafür müssen sich diejenigen, die ein Auswahlgespräch führen, erst einmal fragen, was sie eigentlich testen möchten. Nehmen wir Problemlösungsfähigkeit als Beispiel. Personaler und Manager sollten mit der Bewerberin oder dem Bewerber dann nicht über willkürliche Themen sprechen, etwa über Maßnahmen gegen die Finanzkrise 2008. Da fangen viele an zu schwafeln, punkten mit Halbwissen, und am Ende entscheidet das Bauchgefühl der Jury. Gerade das will man ja verhindern. Besser ist es, sich ein konkretes Problem aus dem Arbeitskontext zu überlegen und eine Lösungsskizze vorzubereiten. Dann hat man am Ende ein Ergebnis: Hat der Kandidat die Fähigkeit, ein bestimmtes Problem zu lösen?
Schwächen Pausen diese Effekte ab?
Ja, allerdings müssen sie sehr lang sein, am besten über eine Stunde. Im Idealfall findet in den Pausen auch etwas ganz anderes statt, damit die Bewerter abgelenkt sind und das Gedächtnis zur Ruhe kommen kann.
Wie verhält es sich mit Kontrasteffekten, wenn mehrere Bewerber gleichzeitig an einem Gespräch teilnehmen?
Das ändert wenig, denn auch in einer Gesprächsrunde werden in einer gewissen Reihenfolge Fragen gestellt und die Bewerber bewertet. Der Effekt könnte durch das gleichzeitige Vergleichen sogar noch verstärkt werden. Das haben wir aber nicht untersucht.
Wie sehr hängt der Effekt von der Zusammensetzung der Jury ab? Die ließe sich ja leicht verändern.
Da gibt es keinerlei Zusammenhang. Betroffen sind gleichermaßen männliche und weibliche, jüngere und ältere Gutachter. Auch Erfahrung scheint keine Rolle zu spielen. Egal ob das erste oder das tausendste Bewerbungsgespräch: Auch alte Hasen sitzen Kontrasteffekten auf.
Sollte man Auswahlgespräche dann nicht gleich abschaffen, wenn es eigentlich nur darum geht, eine Checkliste abzuklopfen?
So weit würde ich nicht gehen. In bestimmten Bereichen ist einfach eine gewisse Subjektivität geboten. Wie soll man etwa das soziale Engagement einer Person einschätzen? Hier muss ich nachfragen können, wie intensiv jemand die Aktivität verfolgt hat, die er im Lebenslauf angegeben hat. Ohne Gespräch komme ich nicht weit. Doch auch hier kann ich Kriterien festlegen, um die Objektivität zumindest etwas zu erhöhen. Ist es für die zu besetzende Stelle beispielsweise relevant, ob jemand tatsächlich ein Projekt geleitet hat – oder reicht es, wenn er fachlich etwas eingebracht hat?
Sollte man in Bewerbungsgesprächen mehr über den Menschen selbst als über seine Qualifikationen sprechen?
Das kann man versuchen, aber damit macht man sich natürlich ebenfalls anfällig für Beurteilungsfehler. Je weniger Kriterien ich vorher definiert habe, desto einfacher lasse ich mich ungewollt beeinflussen.
Könnte künstliche Intelligenz helfen?
Das ist noch unklar. Eine Studie in den USA zeigte immerhin: Gering qualifizierte Mitarbeiter, die durch eine KI ausgewählt wurden, blieben länger im Unternehmen als ihre von Menschen ausgewählten Kollegen. Ich halte es aber für fraglich, ob solche Technologien auch bei hoch qualifizierten Bewerbern die Auswahlentscheidungen verbessern.
Kontrasteffekte zeigen sich auch bei der Auswahl für Vorstandsposten, oder?
Ja, davon gehen wir aus. Wir haben einen Datensatz analysiert, bei dem es um die Auswahl hoch qualifizierter Personen geht, und konnten den Effekt dort ebenfalls nachweisen.
Diese Kontrasteffekte scheinen hartnäckige Begleiter zu sein.
Absolut. Im Grunde kann jede Bewertungssituation betroffen sein – von der Notenvergabe in der Schule bis zu Kreditvergaben von Banken oder Investitionsentscheidungen an Finanzmärkten. Diese hängen oft davon ab, was tags zuvor am Markt passiert ist. Dieser Beurteilungsfehler ist sehr tief in uns Menschen verankert.
Kann ich mir das als Bewerber zunutze machen? Zum Beispiel indem ich nach einer absoluten Null vorspreche?
Rein theoretisch wäre das natürlich die optimale Strategie. Allerdings ist es in der Praxis doch eher selten möglich, sich den Zeitpunkt oder den Platz in einer Bewerbungsrunde auszusuchen. Von daher gibt es wahrscheinlich kaum Handlungsmöglichkeiten für Bewerberinnen und Bewerber.
Was wäre denn rein theoretisch der beste Startplatz?
In der Tendenz werden spätere Bewerber besser beurteilt. Es gibt eine Studie über einen Klavierwettbewerb. Das Ergebnis: Je später ein Kandidat vorspielte, desto besser wurde er bewertet. Also: schön geduldig bleiben! © HBm 2021

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Dieser Artikel erschien in der August-Ausgabe 2021 des Harvard Business managers.