Die Corona-Krise hat einmal mehr gezeigt, welche zentrale und produktive Rolle wissenschaftliche Beratung für die Politikgestaltung spielen kann. Evidenz, also gut gestützte Erkenntnis, ist eine zentrale Voraussetzung für eine rationale und effiziente Auswahl politischer Maßnahmen. Was wie eine Selbstverständlichkeit klingt, ist allerdings weitgehend Illusion, vor allem in Deutschland.
In sozialwissenschaftlichen Fragen regiert meist der gesunde Menschenverstand, der – bei allem Respekt – so gesund oft nicht ist. Entscheidungsträger folgen häufig "starken Intuitionen", gehen fehlerhaft mit Wahrscheinlichkeiten um, verwechseln Korrelation mit Kausalität oder vernachlässigen Folgewirkungen und Ausweichreaktionen. Der Mangel an Evidenz oder ein falscher Umgang mit Daten führen deshalb regelmäßig zu Fehlschlüssen, die noch verstärkt werden durch politischen Druck, Stimmungen und Umfragen und die Tatsache, dass gerade Entscheidungsträger in ihrem Urteil häufig zu selbstsicher sind.
Oft geht daher gerade das Gutgemeinte nach hinten los. Ein Beispiel? Vor einigen Jahren führten manche US-Bundesstaaten die Maßnahme "Ban the Box" ein, die es Arbeitgebern untersagt, in Bewerbungsunterlagen nach Vorstrafen zu fragen. Das Verbot sollte es vor allem schwarzen US-Amerikanern erleichtern, die erste Hürde im Bewerbungsverfahren zu überwinden.
Belastbare Evidenz zur Wirksamkeit solcher Maßnahmen gab es nicht. Diese wurde 2016 von zwei Ökonominnen nachgeliefert. Für die Studie verschickten Amanda Agan and Sonja Starr 15.000 fiktive Online-Bewerbungen vor und nach Einführung der Maßnahme. Um die Diskriminierung von Schwarzen zu messen, gaben sie den Bewerbern zufällig Namen, die typischerweise mit weißen oder schwarzen Personen verbunden werden.
Vor der Einführung von "Ban the Box" erhielten Bewerber mit einem "weiß" klingenden Namen sieben Prozent häufiger einen Rückruf, nach der Einführung war die Wahrscheinlichkeit um 43 Prozent höher. Der Befund lässt sich auf statistische Diskriminierung zurückführen: Arbeitgeber, die keine Vorbestraften einstellen wollen, aber nicht mehr nach Vorstrafen fragen dürfen, sieben im Zweifel einfach sämtliche schwarzen Bewerber direkt aus.
Das Beispiel verdeutlicht: Man sollte schon alle wissenschaftlichen Methoden ausschöpfen, um möglichst effektive Maßnahmen zu identifizieren. Ein Mittel der Wahl ist die Nutzung randomisierter Kontrollstudien. Das Prinzip ist aus der medizinischen Forschung bekannt: Teilnehmer werden zufällig einer Experimentalgruppe oder einer Kontrollgruppe zugewiesen und erhalten entweder eine Behandlung oder ein Placebo. Auf diese Weise wurden in den Sozialwissenschaften vielfach kausale Effekte aufgezeigt.
In der modernen Wirkungsforschung werden soziale Experimente ergänzt um Analysen großer Datensätze mit Informationen über große Teile der Bevölkerung. In vielen Ländern, insbesondere in Skandinavien, erhalten Forscher längst Zugang zu solchen zumeist staatlichen Daten. Nur so lassen sich sozialpolitische Wirkungen vernünftig analysieren. Auch hier ein Beispiel: Forscher untersuchten mit Daten aus 41 Millionen dänischen Einkommensteuerbescheiden, wie sich die Altersvorsorge verbessern lässt. Dabei fanden sie heraus, dass eine Erhöhung staatlicher Zuschüsse weitgehend verpufft, weil viele Sparer nicht auf veränderte Anreize reagieren oder allenfalls ihre Rentenpläne umschichten: Im Mittel steigen für jeden Euro an zusätzlichen staatlichen Ausgaben die Spareinlagen nur um einen Cent.
Auf der Suche nach effizienteren Alternativen analysierten die Forscher das Sparverhalten von Personen, die zu Firmen gewechselt waren, bei denen man automatisch viel für die Rente spart, wenn man sich nicht aktiv wehrt. Tatsächlich zeigte sich, dass solche Widerspruchslösungen die Sparquote enorm erhöhen.
Das bringt uns zur Situation in Deutschland. Hier herrschen Skepsis, Trägheit und Kleinmut, sowohl gegenüber sozialen Experimenten als auch bei der Bereitstellung administrativer Datensätze. Die Folge: Deutschland ist notorisch untererforscht. Ein enormer Standortnachteil! Während es anderswo durch die Verknüpfung von Daten beispielsweise möglich ist, zu identifizieren, welche Berufsgruppen besonders gefährdet sind, sich mit Corona zu infizieren (also etwa Busfahrer oder Lehrkräfte), war und ist dies in Deutschland leider nicht machbar.
Was Deutschland dringend braucht, ist eine Kultur evidenzbasierter Politik. Die hierfür vielleicht wichtigste politische Voraussetzung ist das selbstkritische Denken. Wer sich einem wissenschaftlichen Test stellt, setzt die Möglichkeit des eigenen Irrtums voraus. Das ist kein Scheitern, sondern Kennzeichen einer rationalen Fehler- und Wissenschaftskultur.
Experimente sollten als Grundlage und zur Evaluation als Teil der Gesetzgebung verankert und der Datenzugang für die Forschung erleichtert werden. Die Daten gehören den Bürgern und Versicherten, sie haben ein Recht auf gute Politik.
Auch müssen falsche Einwände, die in Form von Ethik- und Datenschutzkeulen ihr Unwesen treiben, überwunden werden. Experimente sind nicht unmoralisch oder verletzen das Gleichheitsgebot. Im Gegenteil: Es ist die unkontrollierte Einführung von Maßnahmen, die als unmoralisch zu gelten hat. Man stelle sich vor, Medikamente würden ohne Wirkungs- und Nebenwirkungsanalyse zugelassen. Dabei geht es nicht nur um bessere Politikgestaltung: Evidenz ist auch Gegengift gegen pseudowissenschaftliche Argumente und irrationalen Populismus.
Evidenzbasierte Politik bedeutet dabei keineswegs Technokratie. Evidenz kann immer nur eine Entscheidungshilfe sein, die Entscheidung selbst obliegt immer und ausschließlich dem Souverän. Ich erwarte von den politischen Parteien ein klares Bekenntnis zu einer Kultur der evidenzbasierten Politik. Der Wahlkampf wäre eine gute Gelegenheit dafür.