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Rund 800 Menschen sind heute an zwei symbolträchtigen Orten im Osten und Westen Deutschlands zusammengekommen, um über den Zustand der Demokratie im 30. Jahr nach dem Mauerfall zu diskutieren. In der Dresdner Frauenkirche und der Frankfurter Paulskirche trafen sich zeitgleich Teilnehmer der Gesprächsaktion "Deutschland spricht" mit Politikern, Wissenschaftlerinnen, Stiftungsvertretern und Autorinnen. Die Konferenz in zwei Städten trug den Titel ZEIT für Demokratie - Deutschland spricht.

Die Doppelveranstaltung bildete den Auftakt zur diesjährigen Gesprächsaktion Deutschland spricht. Das von ZEIT ONLINE initiierte Projekt findet in diesem Jahr zum dritten Mal statt. Es bringt Menschen mit möglichst kontroversen politischen Ansichten in persönlichen Gesprächen zusammen. Insgesamt 14.000 Menschen wurden in diesem Jahr einem politisch Andersdenkenden vorgestellt, rund 7.000 der Teilnehmer haben sich an diesem Mittwochabend in ganz Deutschland zum Gespräch getroffen. 

Zu den Streitthemen in diesem Jahr gehörten die Fragen, ob Männer und Frauen in Deutschland die gleichen Chancen haben, die Auswirkungen von Migration und das Verhältnis Deutschlands zu Russland. Sechs Medienpartner hatten gemeinsam zu der Aktion aufgerufen, neben ZEIT ONLINE waren die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Sächsische Zeitung, der Weser Kurier, die Berliner Zeitung, Chrismon und evangelisch.de beteiligt.

In der Dresdner Frauenkirche warb der Bestseller-Autor und Rowohlt-Herausgeber Florian Illies dafür, in kontroversen Auseinandersetzungen neben dem Austausch von Argumenten auch die jeweiligen Lebenserfahrungen und Sehnsüchte des Gegenübers zu berücksichtigen. So sei oftmals bessere Verständigung möglich. Illies warnte zugleich vor der Sehnsucht danach, "dass am Ende mal einer auf den Tisch haut." Die Demokratie lebe, so langweilig das auch manchmal sei, von der Suche nach einem Kompromiss.

"Wir sind im Osten Ostdeutsche und im Westen Ostdeutsche"

In der Frankfurter Paulskirche sprach der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Werner D'Inka, darüber, wie wichtig Streit für eine Demokratie sei, und forderte das Publikum auf: "Lassen Sie es fetzen. Streiten Sie. Sprechen Sie. Lernen Sie andere Meinungen kennen." Die Publizistin und ZEIT-ONLINE-Autorin Jana Hensel wies auf das noch immer unterschiedliche Zugehörigkeitsgefühl von Ost und West hin: "Egal wo wir sind, wir sind im Osten Ostdeutsche und im Westen Ostdeutsche. Westdeutsche sind nur im Osten Westdeutsche, sonst einfach Deutsche." Der Unternehmer Tarek Müller sagte in der Debatte: "Ich halte wenig von Pauschalisierungen. Mir wäre es lieber, wenn wir nicht über Ost und West reden, sondern über benachteiligte oder gut entwickelte Regionen, und versuchen eine Angleichung innerhalb von Deutschland herzustellen."

Der Ökonom Armin Falk berichtete in Dresden von ersten Forschungsergebnissen zu Deutschland spricht. Der Wissenschaftler hatte das Projekt 2018 mit einem Team untersucht. Ein Ergebnis seiner Studie: Bereits ein zweistündiges Gespräch ­zwischen Menschen mit völlig unterschiedlichen ­politischen Ansichten reicht, um Vorurteile gegenüber Andersdenkenden abzuschwächen. Mit dem Blick auf die aufgeheizten Debatten der vergangenen Monate sagte Falk, die Polarisierung in Deutschland sei schon einmal viel dramatischer gewesen. Das dürfe, bei allem aktuellen Dissens, nicht in Vergessenheit geraten. 

Mit Blick auf die jüngsten Wahlergebnisse in Thüringen, riet der Demokratieforscher Wolfgang Merkel von einem Bündnis zwischen CDU und Linken ab – beide Parteien verbinde inhaltlich zu wenig. Stattdessen empfahl er den politisch Verantwortlichen eine Minderheitenregierung zu bilden, nach dem Vorbild "der besten Demokratien, die wir kennen" in den Ländern Skandinaviens.