Mannheimer Professorin (mit Video)

„Männer können immer Vollzeit arbeiten - Kind hin oder her“

Von 
Tatjana Junker
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Michèle Tertilt forscht und lehrt seit 2010 an der Universität Mannheim – unter anderem zu der Frage, welchen Einfluss Entscheidungen in der Familie auf die Wirtschaft haben. © rinderspacher

Mannheim.

Haben Familienmodelle und Geschlechterrollen Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung? Ja, sagt Michèle Tertilt, Professorin für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Mannheim. Für ihren besonderen Forschungsansatz bekommt die 46-Jährige am 13. März in Berlin den renommierten Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis.

Frau Tertilt, der Leibniz-Preis ist mit 2,5 Millionen Euro dotiert. Was machen Sie mit dem Geld?

Michèle Tertilt: Es gibt mir die Freiheit, mich vollkommen auf meine Forschung zu konzentrieren. Ich habe auch schon einige spannende neue Projekte im Auge, zum Beispiel wollen wir Daten zu Finanzentscheidungen in Paaren erheben und die Entwicklung von HIV in Sambia und Simbabwe analysieren. Ein Teil des Geldes fließt zudem in Seminare, Konferenzen Gastwissenschaftler und die Nachwuchsförderung.

Sie untersuchen, wie sich Geschlechterrollen und Familienkonzepte auf die wirtschaftliche Entwicklung auswirken. Was ist das Besondere an diesem Ansatz?

Tertilt: Makroökonomen beschäftigen sich mit dem Bruttosozialprodukt, mit Wachstum - mit den großen Themen. Die Standardsicht ist: Was in Familien passiert, beeinflusst diese Dinge nicht. Dem möchte ich mit meiner Arbeit widersprechen.

Haben Sie ein Beispiel?

Tertilt: Ich habe mich viel mit Polygamie - also mit Vielehen - in Afrika befasst. Die Länder, in denen das erlaubt ist, gehören zu den ärmsten der Welt. Ich wollte wissen, ob es einen Zusammenhang gibt.

Und?

Tertilt: Ja, den gibt es. In diesen Ländern haben Männer oft zwei, drei Frauen. Die Nachfrage nach Frauen ist also tendenziell hoch. Dadurch steigt ihr Preis, in dem Fall der Brautpreis, den der Vater für eine Tochter bekommt. Fünf Kühe zum Beispiel. Als Mann macht es deshalb ökonomisch Sinn, eine Frau zu kaufen - in der Hoffnung, dass sie viele Töchter bekommt. Die kann er dann 15, 20 Jahre später weiterverkaufen. So bekommt er hohe Zinsen für seine Investition in die Frau.

Und was hat das mit der Wirtschaftsentwicklung zu tun?

Tertilt: Die Männer investieren das, was sie haben, in Frauen - und nicht in produktive Güter, die das Bruttosozialprodukt steigern würden. Beispielsweise Land oder ein Traktor.

Wäre es also besser, Polygamie in diesen Ländern zu verbieten?

Tertilt: Wenn man das durchsetzen könnte, würde das Bruttosozialprodukt erheblich steigen, das habe ich ausgerechnet. In der Praxis ist es aber sehr schwer, ein solches Verbot durchzusetzen, vor allem in den abgelegenen Dörfern. Die Alternative wäre, Frauenrechte zu stärken. Wenn die Töchter nicht mehr Eigentum des Vaters sind und selbst entscheiden, wen sie heiraten, kann er sie nicht mehr verkaufen.

Ein anderes Thema, an dem Sie arbeiten, lautet „asymmetrische Information bei Paaren“. Das klingt eher nach Eheberatung als nach Wirtschaftswissenschaften...

Tertilt: Wirtschaftswissenschaft beschäftigt sich mit der Frage, wie Menschen über knappe Ressourcen entscheiden. Solche Entscheidungen werden auch in Familien getroffen. Ich möchte herausfinden, wie. Die Standardansicht ist: Das läuft alles irgendwie harmonisch. Ich glaube nicht, dass das immer so ist.

Sondern?

Tertilt: Angenommen einer der Partner bekommt zusätzlich Geld, einen Bonus seiner Firma. Wie wirkt sich das auf die Verhandlung darüber aus, wofür das Geld ausgegeben wird? Unsere These: Wer den Bonus bekommt, kann dem anderen davon erzählen - er könnte es aber auch geheimhalten. Das gibt ihm eine stärkere Verhandlungsposition, wenn zum Beispiel gestritten wird, ob er sich damit ein Motorrad kauft oder die Familie davon in Urlaub fährt: Weil der andere fürchten muss, dass der Partner, wenn es nicht nach seinem Kopf geht, vom nächsten Bonus einfach gar nichts mehr erzählt. Wie sich das dann weiter auswirkt, müssen wir noch sehen.

Sie befassen sich auch damit, ob es einen Zusammenhang zwischen häuslicher Gewalt und Konjunkturzyklen gibt. Wie sieht er aus?

Tertilt: Wir haben Daten aus schwedischen Krankenhäusern ausgewertet. Sie zeigen, dass häusliche Gewalt in Phasen des wirtschaftlichen Abschwungs deutlich zunimmt. Als nächstes wollen wir herausfinden, welche Mechanismen dahinterstehen. Eine Hypothese könnte sein, dass die Arbeitslosigkeit steigt, Männer häufiger depressiv werden und Frauen öfter schlagen. Denkbar wäre aber auch, dass sich Paare, in denen es große Konflikte gibt, in einer Rezession schlechter trennen können, weil das Geld fehlt.

Inwieweit beeinflussen Geschlechterrollen in Deutschland die wirtschaftliche Entwicklung?

Tertilt: In Deutschland fällt auf, dass die Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen besonders hoch sind. Im Schnitt verdienen Frauen rund 20 Prozent weniger als Männer, vor allem weil sie oft schlechter bezahlte Jobs annehmen oder Teilzeit arbeiten. Das hängt oft mit der Familiensituation zusammen. Und mit Rollenmodellen.

Haben die sich nicht verändert?

Tertilt: Zum Teil schon. Aber als Frau wird man immer noch schief angeschaut, wenn man, wie ich, direkt nach der Geburt eines Kindes wieder arbeiten geht. Da muss man sich erklären, warum man nicht ein Jahr zu Hause bleibt. Dafür müsste sich ein Mann nie rechtfertigen! Was mich auch total nervt, ist die verbreitete Vorstellung, dass Frauen erst wieder arbeiten gehen dürfen, wenn sie eine Betreuung für das Kind organisiert haben. Für Männer gilt das nicht: Die können immer Vollzeit arbeiten, Kind hin oder her. Da bleibt ein Ungleichgewicht in den Köpfen.

Es gibt viele Frauen, die Wirtschaftswissenschaften studieren, Professorinnen sind aber stark in der Minderheit. Woran hakt es?

Tertilt: Es ist leider Fakt, dass der Frauenanteil mit jeder Hierarchiestufe kleiner wird - das ist im Fachbereich Volkswirtschaftslehre noch ausgeprägter als in anderen Disziplinen. Die Gründe dafür sind sehr vielschichtig. Da wirken zum Teil unterbewusste, sehr subtile Vorurteile.

Zum Beispiel?

Tertilt: Es ist nachgewiesen, dass Frauen in Empfehlungsschreiben für eine Stelle von ihren Betreuern an der Uni zum Beispiel als „sehr gute, fleißige Studentin“ beschrieben werden. Bei Männern heißt es eher: „Das ist ein toller Forscher, den kann ich mir sehr gut als künftigen Kollegen vorstellen.“ Das kommt gleich ganz anders rüber: Der Student wird als potenzieller Kollege auf Augenhöhe vorgestellt, die Studentin als fleißiges Mädchen.

Was kann man dagegen tun?

Tertilt: Man muss die Berufungskommissionen, die Stellen vergeben, sensibilisieren. In den USA wird das oft gemacht, in Deutschland leider nicht. Hilfreich wäre auch, wenn Frauen Karierreschritte selbstbewusster einfordern würden.

Was halten Sie von einer Quote?

Tertilt: Ich bin eher gegen Quoten. Sie führen oft dazu, dass Frauen noch skeptischer angeschaut werden. Nach dem Motto: Du hast den Job ja nur gekriegt, weil du eine Frau bist. Das geht eher nach hinten los.

Haben Sie selbst Sexismus in der Wissenschaft erlebt?

Tertilt: Ich war damit nie persönlich konfrontiert. Als Mentorin bekomme ich aber des Öfteren mit, dass Nachwuchswissenschaftlerinnen von solchen Erfahrungen berichten. In den USA gibt es dazu in der Volkswirtschaftslehre im Moment eine große Debatte - und es ist extrem wichtig, dass sie ehrlich geführt wird.

Sie haben lange in den USA geforscht. Warum sind Sie an die Uni Mannheim gekommen?

Tertilt: Deutschland ist meine Heimat, hier ist meine Familie. Allerdings war klar: Entweder ich gehe an eine der zwei besten Unis in Volkswirtschaftslehre - das waren für mich damals Mannheim und Bonn - oder ich lasse es ganz.

Das Interview wurde persönlich geführt und Michèle Tertilt zur Abstimmung vorgelegt.

Preisgekrönte Forscherin

  • Michèle Tertilt (46) wird am 13. März in Berlin mit dem Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis geehrt.
  • Er wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) vergeben, ist mit 2,5 Millionen Euro dotiert und zählt zu den wichtigsten Auszeichnungen für Forschung.
  • Tertilt ist seit 2010 Professorin für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Mannheim. Für ihre Arbeit wurde sie schon mehrfach ausgezeichnet.
  • Vor ihrer Zeit in Mannheim lehrte Tertilt mehrere Jahre an der Stanford University in den USA. Sie hat eine Tochter. 
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