«Das Experiment im NZZ Folio»: Wie eine grosse Frage aus den Sozialwissenschaften mit Grabsteinen, künstlicher Intelligenz und einer Lotterie beantwortet werden konnte.
«Die Idee entstand an einem Mittagessen vor vier Jahren», erinnert sich Wladislaw Mill. Damals kam er ins Gespräch mit seinem Kollegen Tobias Ebert. Mill befasst sich an der Universität Mannheim als Verhaltensökonom mit «der dunklen Seite des Menschen», wie er es nennt: Machtmissbrauch, Diskriminierung, Krieg. Ebert dagegen ist Psychologe. In einer Studie über die Lebenserwartung gläubiger Menschen hatte er Bilder von Grabsteinen verwendet, wie man sie heute auf Internetseiten wie findagrave.com in Hülle und Fülle findet. Als die beiden Forscher darauf zu sprechen kamen, erkannten sie, dass die Grabsteine ihnen helfen konnten, eine grosse Frage aus den Sozialwissenschaften zu beantworten: Wird man im Krieg religiös?
Zu dieser Frage wurden nach dem Zweiten Weltkrieg Studien mit Veteranen unternommen. «Im Schützengraben gibt es keine Atheisten.» Das behauptete der Volksmund schon lange. Aber stimmte es auch? Mill etwa vermutete, dass eher vom Glauben abfiel, wer den Schrecken des Krieges aus der Nähe erlebte. Und selbst wenn sich Veteranen als besonders religiös erweisen sollten, war ungewiss, ob der Krieg zu mehr Religiosität führt oder Religiosität zu mehr Krieg. Vielleicht dienten religiöse Männer einfach lieber als Soldaten. Um Ursache und Wirkung auseinanderzuhalten, war ein Experiment nötig, doch der Krieg liess sich nicht ins Labor holen.
Da fiel Wladislaw Mill ein, dass das Experiment, das sie brauchten, längst gemacht worden war: die Einberufungslotterie während des Vietnamkriegs. Von 1969 bis 1975 führten die US-Behörden Fernsehlotterien durch, bei denen junge Männer erfuhren, ob sie Wehrdienst leisten mussten. Auf dem ersten gezogenen Los stand zum Beispiel «14. September». Alle Männer mit Jahrgängen zwischen 1944 und 1950, die an diesem Tag geboren worden waren, erhielten das Aufgebot. Damit entstand, was in der Forschung eine perfekte Randomisierung heisst: Am 14. September geborene Männer unterschieden sich durch nichts systematisch von an anderen Tagen geborenen Männern – ausser durch ihren bevorstehenden Militäreinsatz.
Jetzt kam Eberts Grabsteindatenbank ins Spiel. Weil auf jedem Grabstein das Geburtsdatum stand, wusste Mill, ob der dort Begrabene als Soldat ausgelost worden war. Aber wie liess sich herausfinden, ob er auch religiös gewesen war? Um diese Frage zu beantworten, kontaktierten Mill und Ebert einen Kollegen, der eine KI-Bilderkennung trainierte. Diese erkannte auf den Bildern der Grabsteine religiöse Symbole wie etwa Kreuze. Die Annahme: Ein Kreuz legt nahe, dass der darunter Begrabene gläubig gewesen war. Das bestätigten andere Abklärungen.
Die Überlegung war nun folgende: Wenn auf Grabsteinen mit Geburtsdaten von Einberufenen häufiger religiöse Symbole eingraviert waren als auf den andern Grabsteinen, hatte der Krieg diese Männer offenbar gläubiger werden lassen.
Mill und Ebert liessen 103 856 Grabsteine von der KI analysieren – 40 646 von Männern, die einberufen worden waren, und 63 210 der glücklichen andern. Die Resultate waren eindeutig: Wer je rekrutiert wurde, auf dessen Grabstein fand sich mit 19 Prozent höherer Wahrscheinlichkeit ein Kreuz – egal ob er während des Krieges gestorben war oder später.
Weil nicht jeder Einberufene auch wirklich diente – manche kamen davon oder wurden dispensiert –, schätzt Mill den tatsächlichen Effekt mindestens fünf Mal höher ein. «Ich hätte gerne gewusst, ob Soldaten, die an der Front waren und viele Tote gesehen haben, noch religiöser geworden sind als Soldaten in der Rechnungsabteilung, aber diese Daten standen mir nicht zur Verfügung.»