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Arbeitsmarkt "Für alleinerziehende Mütter ist es besonders schwierig"

Aufgerieben zwischen Kinderbetreuung und Job trifft die Coronakrise besonders berufstätige Mütter. Doch auf lange Sicht könnten Frauen profitieren, meint die Ökonomin Michèle Tertilt.
Ein Interview von Maren Hoffmann
Michèle Tertilt forscht unter anderem über den Einfluss familiärer Beziehungen auf die Wirtschaft

Michèle Tertilt forscht unter anderem über den Einfluss familiärer Beziehungen auf die Wirtschaft

Foto: Anna Logue

Michèle Tertilt, Ökonomin an der Uni Mannheim, hat mit drei weiteren Wirtschafts­wissenschaft­lerinnen und -wissenschaft­lern untersucht, wie sich die Coronakrise in ihren ökonomischen Auswirkungen von bisherigen Krisen unterscheidet. Ihre neueste Studie bezieht sich auf die USA, aber die grundlegenden Prinzipien sind durchaus auf Deutschland übertragbar.

Zur Person

Michèle Tertilt, Jahrgang 1972, ist Wirtschaftswissenschaftlerin mit Professur an der Universität Mannheim. 2019 erhielt sie den Leibniz-Preis für ihre Leistungen an der Schnittstelle von Makroökonomie, Entwicklungsökonomie und Familienökonomie. Sie forscht unter anderem über Entwicklungsökonomie und den Einfluss familiärer Beziehungen auf die Wirtschaft.

SPIEGEL: Sie haben den Einfluss von Covid-19 auf die Gleichstellung der Geschlechter untersucht - und sagen, Frauen treffe die aktuelle Krise wesentlich schlimmer als Männer. Warum?

Michèle Tertilt: Zunächst einmal: Die medizinische Krise trifft Männer härter als Frauen, die Sterblichkeitsrate bei einer Covid-19-Erkrankung liegt bei ihnen höher. Wir haben allein die wirtschaftliche Seite der Krise betrachtet. Und da ist klar: In Krisen wie etwa der jüngsten globalen Finanzkrise 2008 waren immer die Männer stärker in Gefahr, ihre Arbeitsplätze zu verlieren. Das ist in der Coronakrise ganz anders.

SPIEGEL: Inwiefern?

Tertilt: Derzeit zeichnet sich ab, dass in einem Großteil der Jobs, die jetzt verloren gehen, Frauen arbeiten – etwa in der Gastronomie, dem Tourismusgewerbe, der Hotellerie, den Fluggesellschaften und in Serviceberufen. Unsere Studie betrachtet die Verhältnisse in den USA, viele grundlegende Erkenntnisse daraus sind aber übertragbar auf die deutsche Gesellschaft. In früheren Krisen zeigte sich, dass typische Männerjobs etwa in Fabriken oder auf dem Bau besonders gefährdet waren, typische Frauenjobs dagegen weniger. Das ist jetzt anders.

SPIEGEL: Frauen sind also die ökonomischen Verlierer dieser Krise?

Tertilt: Kurzfristig schon. Ein wichtiger Grund ist auch die Kinderbetreuung. Weltweit sind derzeit fast alle Betreuungseinrichtungen und Schulen geschlossen. Laut Unesco betrifft das rund 1,5 Milliarden Kinder. Wer passt jetzt auf sie auf? Das sind typischerweise die Frauen. Unsere Untersuchungen zeigen: Selbst bei Paaren, bei denen beide Partner Vollzeit arbeiten, übernehmen die Frauen die Hauptlast dieser Betreuungsarbeit. Und für die alleinerziehenden Mütter ist es besonders schwierig: Ihre Netzwerke aus Betreuungseinrichtungen, Großeltern und Nachbarschaft liegen derzeit brach. Die können gar nicht normal arbeiten, selbst wenn es von der Firma aus ginge.

SPIEGEL: Wie viele betrifft das?

Tertilt: In Deutschland gibt es rund acht Millionen Familien mit minderjährigen Kindern. Es gibt knapp anderthalb Millionen Alleinerziehende, davon sind knapp 90 Prozent Frauen. Und diese 1,36 Millionen Frauen haben ein Riesenproblem, jedenfalls kurzfristig und akut. Längerfristig gibt es allerdings durchaus Anlass zur Hoffnung.

SPIEGEL: Das klingt allerdings erst einmal nicht danach.

Tertilt: Wenn wir in die Vergangenheit schauen, dann sehen wir, dass bestimmte Krisen auch dauerhafte strukturelle Veränderungen bewirkt haben: Im Zweiten Weltkrieg etwa, als ein Großteil der Männer an der Front war, gingen plötzlich Frauen in Berufen arbeiten, die vorher nur Männern vorbehalten waren. Und viele blieben auch nach Kriegsende in diesen Berufen. Derzeit gibt es auch in Deutschland viele Haushalte mit plötzlich umgekehrten Rollen: Der Mann hat vielleicht einen Bürojob und ist nun ganztägig im Homeoffice oder kann gerade gar nicht arbeiten, die Frau ist vielleicht Krankenschwester oder Kassiererin. Und plötzlich sind viele Männer zum ersten Mal in ihrem Leben hauptverantwortlich für die Kinderbetreuung. Das ist eine prägende Erfahrung – und hat Potenzial für einen Kulturwandel.

SPIEGEL: An dem müssten aber auch die Unternehmen mitwirken.

Tertilt: Es gibt derzeit auch in den Firmen ein Umdenken. Plötzlich ist es normal, dass mal Kinder bei der Videokonferenz durchs Bild laufen oder dass Arbeitszeiten viel flexibler gestaltet werden. In der derzeitigen Situation ist das Interesse der Firma und das der Mitarbeitenden im Homeoffice das gleiche: Der Laden muss laufen, und das geht nur mit mehr Flexibilität. Und von dieser Erfahrung wird sicher einiges hängenbleiben, das lässt sich nicht mehr zurückdrehen. Frühere Studien haben gezeigt, dass vor allem in hochqualifizierten Jobs ein Großteil des Gehaltsunterschieds zwischen Männern und Frauen auf eine fehlende Flexibilität von Arbeitszeit und -ort zurückgeht. Wenn sich das ändert, wird das den Frauen zugutekommen. Diese Schere wird sich weiter schließen.

SPIEGEL: Werden Frauen am Ende gestärkt aus dieser Krise hervorgehen?

Tertilt: Ich sehe zwar Potenzial für langfristiges Umdenken und dass Frauen auch profitieren, aber dass Frauen gestärkt aus der Krise hervorgehen, wage ich zu bezweifeln. Bei den Alleinerziehenden etwa hilft das Umdenken über die Arbeitsteilung in der Familie wenig. Und die akuten Jobverluste werden erst einmal zu teils großen finanziellen Problemen führen. Es dauert normalerweise ganz schön lange nach einer Wirtschaftskrise, bis eine Gesellschaft alle verlorenen Jobs wiedergewonnen hat.